Politische Selbstermächtigung mit juristischen Mitteln

Was für ein peinliches Schauspiel, das sich der Landtag zu Thüringen unter Regie der CDU da geleistet hat: Statt sich an Recht und Gesetz zu halten wurde gestritten wie sonst nicht einmal bei der Wahl eines Schülersprechers der Unterstufe eine Gymnasiums. So beschädigen sich selbsternannte Demokraten.

IMAGO / Funke Foto Services

In Thüringen erlebten wir heute ein bemerkenswertes Schauspiel. Es trat der Landtag nach der Wahl vom 1. September zu seiner konstituierenden Sitzung zusammen. Das ist normalerweise kaum mehr als ein protokollarischer Vorgang, der mit der Wahl eines Landtagspräsidenten und seiner Stellvertreter endet. In diesem Akt konstituiert sich nicht nur der Landtag, sondern die beteiligten Parteien und Abgeordneten verständigen sich damit auch über die zukünftige Form ihrer Konfliktaustragung. Auf einer späteren Sitzung wird ein Ministerpräsident gewählt, der eine Regierung bildet. Das Verhältnis zwischen Regierung und Opposition ist anschließend geklärt. Das war bisher selbstverständlich, aber heute war das Selbstverständliche nicht mehr selbstverständlich. Es endete nach einem mehrstündigen Drama in einem politischen Desaster.

Das Erfurter Durcheinander

Dabei hat die Thüringer Verfassung im Artikel 57 diese konstituierende Sitzung unmissverständlich geregelt. Im Absatz 1 heißt es: „Der Landtag wählt aus seiner Mitte den Präsidenten, die Vizepräsidenten und die Schriftführer“ und laut Absatz 5 gibt sich „der Landtag eine Geschäftsordnung.“ Diese regelt das Verfahren, was zur Anwendung kommen soll. Im § 1 GO heißt es in den Absätzen 2 und 3 wie folgt: „Die erste Sitzung des Landtags leitet das an Jahren älteste oder, wenn es ablehnt, das jeweils nächstälteste Mitglied des Landtags, bis die neu gewählte Präsidentin beziehungsweise der neu gewählte Präsident oder deren Stellvertretung das Amt übernimmt“ und „die Alterspräsidentin beziehungsweise der Alterspräsident ernennt zwei Abgeordnete zu vorläufigen Schriftführerinnen beziehungsweise Schriftführern und lässt die Namen der Abgeordneten aufrufen.“ Im § 2 GO wird in den Absätzen 1 und 2 ausgeführt, was darunter zu verstehen ist: „Der Landtag wählt die Präsidentin beziehungsweise den Präsidenten und die Vizepräsidentinnen beziehungsweise Vizepräsidenten in besonderen Wahlgängen für die Dauer der Wahlperiode. Die Wahlen werden ohne Aussprache und geheim durchgeführt. Gewählt ist, wer die Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen erhält. Ergibt sich keine solche Mehrheit, können für weitere Wahlgänge neue Bewerberinnen beziehungsweise Bewerber vorgeschlagen werden.“ Außerdem, so im folgenden Absatz 3, schlägt „die stärkste Fraktion ein Mitglied des Landtags für die Wahl zur Präsidentin beziehungsweise zum Präsidenten vor. Die anderen Fraktionen schlagen jeweils ein Mitglied des Landtags für die Wahl zur Vizepräsidentin beziehungsweise zum Vizepräsidenten vor, sodass jede Fraktion im Vorstand des Landtags mit einem Mitglied vertreten ist.“

Gespenstische Szene

Die Thüringer Verfassung und die Geschäftsordnung des Landtags sind damit unmissverständlich. Das Verfahren ist festgelegt bis der Landtag eine Verfassungsänderung oder eine andere Geschäftsordnung beschließt. Das war allerdings nicht für die Mehrheit des Thüringer Landtags verständlich. Sie wollten vor der Konstituierung des Landtages eine andere Geschäftsordnung durchsetzen. Dafür gab es zwar keine rechtliche Begründung, aber ein politisches Motiv. Die hatte schon vor Monaten der Verfassungsblog in seinem Thüringen-Projekt beschrieben. Es geht um die politische Abwehr einer Partei namens AfD mit rechtlichen Mitteln. Das mag man für geboten halten, ist aber der Grund, warum diese konstituierende Sitzung des Landtages in einem politischen Desaster endete. Denn die vom Verfassungsblog wortreich vorgeschlagene Begründung für die trickreiche Anwendung einer schon vor der Konstituierung des Landtages zu ändernden Geschäftsordnung scheiterte an einem 73jährigen alten Mann namens Jürgen Treutler. Der kam zum Leidwesen der anderen Fraktionen (CDU, BSW, Linke, SPD) von der AfD. Er beharrte auf eine Rechtsauffassung, wie sie in der Verfassung und der Geschäftsordnung des Landtages bisher festgelegt sind. Das wurde auch immer so praktiziert, schließlich gab es vorher keine Veranlassung einen protokollarischen Vorgang namens konstituierender Sitzung anders zu gestalten.

So nahm das Drama seinen Lauf, oder war es eine Posse? Im Landtag schlugen sich Abgeordnete stundenlang ihre jeweiligen Meinungen um die Ohren, wie Verfassung und Geschäftsordnung zu interpretieren sind. Das Getöse wurde nur durch mehrfache Sitzungsunterbrechungen stumm geschaltet. Man stritt sich, ob der Alterspräsident das Wort erteilen dürfe, oder sich das jeder wie an Erfurter Stammtischen selbst nehmen könne. Die Höhepunkte waren die Rufe von einer „Machtergreifung der AfD“ und die Aufforderung an das zweitälteste Mitglied des Landtages, die Sitzungsleitung zu übernehmen. Dafür gab es zwar keine rechtliche Grundlage, aber das schien die Rufer nicht zu stören. Dieser verzichtete allerdings darauf, dieser Aufforderung Folge zu leisten. Wie sollte man das sich das auch vorstellen? Wollten die Mehrheitsfraktionen Treutler mit Gewalt vom Sitz des Alterspräsidenten entfernen? Es war eine gespenstische Szene, die nur durch den Wahn zu erklären ist, die AfD stünde kurz dafür ein neues Ermächtigungsgesetz für ganz Deutschland zu beschließen.

Wahnsinn im Thüringer Landtag

Tatsächlich ist in der GO des Thüringer Landtages im § 2 ein Widerspruch eingebaut. So kann der Landtag im Absatz 2 frei entscheiden, wen er zum Landtagspräsidenten wählt, aber den soll nach Absatz 3 die stärkste Fraktion stellen. Weil aber die anderen Parteien keinen Landtagspräsidenten der AfD akzeptieren wollen, soll der Absatz 3 nicht mehr zur Anwendung kommen. Dieser Widerspruch lässt sich nur politisch lösen. Unter normalen Bedingungen geschieht das durch einen Kompromiss. Beide Seiten müssen sich dafür weder wertschätzen, noch müssen sie Sympathie füreinander empfinden. Sie dürfen sich sogar hassen, wenn das ihrem jeweiligen Gefühlshaushalt dienlich sein sollte. Sie haben aber jeden Versuch zu unterlassen, der die Art der Konfliktaustragung im parlamentarischen System zur Disposition stellt. Denn die vier anderen Fraktionen kamen nicht am Alterspräsidenten vorbei: Er hat sich schließlich an die bisher geltende Verfassungs- und Gesetzeslage gehalten. Dass die Situation derart eskalieren konnte, nämlich ohne Rechtsgrundlage einen anderen Alterspräsidenten einzusetzen, dokumentierte den Wahnsinn im Thüringer Landtag. Dafür waren aber die Juristen des Verfassungsblogs verantwortlich, die die Abgeordneten von CDU, Linke, BSW und SPD mit ihrer Rabulistik auf die Barrikaden getrieben haben. Die AfD sollte sie zu Mitarbeitern des Monats ernennen.

Am Ende hat der Parlamentarische Geschäftsführer der AfD, Torben Braga, einen Ausweg ermöglicht. Entweder einige man sich politisch auf einen Kompromiss oder der Thüringer Verfassungsgerichtshof müsse die Sachlage rechtsverbindlich für alle Abgeordneten des Landtages entscheiden. Dem hat der Landtag zugestimmt, wie Andreas Bühl als Sprecher der anderen Fraktionen zum Ende dieser missglückten konstituierenden Sitzung mitteilte. Der parlamentarische Geschäftsführer der CDU wirkte dabei sehr kleinlaut, um das höflich zu formulieren. Der Landtag will die Sitzung am kommenden Samstag um 09:30 Uhr fortsetzen. Bis dahin ist mit einer Entscheidung des Thüringer Verfassungsgerichtshofes zu rechnen. Die ist anschließend für alle Parteien im Thüringer Landtag verbindlich. Zu dem Ergebnis hätte man aber schon nach zehn Minuten kommen können. Stattdessen versuchten es CDU, Linke, BSW und SPD mit einer juristischen Selbstermächtigung aus politischen Motiven.

So bleibt eins festzuhalten. Eine parlamentarische Demokratie lebt nicht von den Grundwerten, auf die jeder einen Monopolanspruch erhebt. Sie kann nur existieren, wenn sich alle Parteien an die geltenden Regeln halten. Ansonsten muss man tatsächlich mit Gewalt einen Alterspräsidenten namens Jürgen Treutler entfernen. Dazu kam es im Landtag zum Glück nicht. Insofern sollte dieses Drama für alle eine Lehre sein, selbst wenn es in der künstlerischen Umsetzung wie eine Posse wirkte. Es war eine Warnung an die Parteien, die die AfD noch nicht einmal als legalen Teil der parlamentarischen Konfliktaustragung anerkennen wollen. Nur konstituiert sich erst unter dieser Voraussetzung der demokratische Geist im Parlamentarismus.

Anzeige

Unterstützung
oder

Kommentare ( 251 )

Liebe Leser!

Wir sind dankbar für Ihre Kommentare und schätzen Ihre aktive Beteiligung sehr. Ihre Zuschriften können auch als eigene Beiträge auf der Site erscheinen oder in unserer Monatszeitschrift „Tichys Einblick“.
Bitte entwerten Sie Ihre Argumente nicht durch Unterstellungen, Verunglimpfungen oder inakzeptable Worte und Links. Solche Texte schalten wir nicht frei. Ihre Kommentare werden moderiert, da die juristische Verantwortung bei TE liegt. Bitte verstehen Sie, dass die Moderation zwischen Mitternacht und morgens Pause macht und es, je nach Aufkommen, zu zeitlichen Verzögerungen kommen kann. Vielen Dank für Ihr Verständnis. Hinweis

251 Comments
neuste
älteste beste Bewertung
Inline Feedbacks
Alle Kommentare ansehen
Dieter Rose
15 Minuten her

Was würde bei einem Verbot der AfD („gesichert verfassungsfeindlich“) mit den Sitzen in den Parlamentenn geschehen?
Würden die proportional auf die in den Parlementen noch verbliebenen Parteien verteilt! Da wird es doch sicher einen Kniff geben, auf Neuwahlen verzichten zu dürfen.

Dorn
26 Minuten her

Politik die den Anforderungen einer Demokratie entsprechen will war schon immer eine Politik der Kompromisse, mit denen keine der beteiligten Seiten zufrieden war! Wenn man eine AFD verhindern will muss man in seiner Leistung so überzeugen das keiner der das Gefühl hat das es sie bräuchte. Hat man nicht gemacht, will man auch nicht und das Schlimmste ist das die Akteure der sogenannten alt-Parteien es einfach nicht verstehen können. Also tun sie alles aber wirklich alles dafür das noch mehr das Gefühl bekommen eine AFD zu brauchen. Die Thüringer, wie der Rest der Bevölkerung, hat ein Recht das die von… Mehr

RUEDI
32 Minuten her

Hier als Ergänzung zur Diskussion: Eine ad-hoc NEUFASSUNG der Einladung / TO von einer NICHT mehr im Amt befindlichen Landtagspräsidentin, 3 Wochen nach der Landtagswahl, aufgrund IHRER SPD / CDU / BSW nicht genehmen Ergebnissen f. die AFD. Das sollte auch das VG betrachten – macht es aber nicht. Dass Treutler diese ad-hoc Manipulierung der TO nicht so ohne weiteres zugesteht ist nicht nur das gute Recht sondern hat auch was mit Anstand zu tun. Zumal es ja wohl eine Altfassung der Einladung- wo ist sie denn ?- geben müsste. Wer hat uns verraten – die „WIR DEMOKRATEN“ ( Auszug)… Mehr

Alt-Badener
35 Minuten her

Dieses Land, bzw. seine politischen Repräsentanten der sog. „Demokratischen Parteien“ widern mich nur noch an. Und dass Mitglieder einer CDU so tief sinken können, ist für mich, der 50 Jahre CDU gewählt hat, mehr als verstörend. Ich bin tatsächlich entsetzt und, so kann ich sagen, politisch traumatisiert. Dieses Land ist nicht mehr mein Land, ich muss mich schämen, Deutscher zu sein. Und es wundert mich seit gestern nicht mehr, dass 1933 geschehen konnte.

Maja Schneider
51 Minuten her

Die Selbstentlarvung der Parteien (außer der AfD) schreitet immer weiter voran! Was wir hier erleben durften, ist mit Kindergarten nicht ausreichend bezeichnet, es glich eher einem Irrenhaus.

Klaus D
54 Minuten her

Zu dem Ergebnis hätte man aber schon nach zehn Minuten kommen können…..nicht wirklich denn hätte man das gemacht wäre direkt aufgefallen das der Thüringer Verfassungsgerichtshof CDU lastig ist*. Wenn im grund alle wussten was kommt werden diese entsprechend gehandelt haben. Auch die AfD denn wenn der Thüringer Verfassungsgerichtshof jetzt gegen diese entscheidet führt man jetzige politik vor und macht sie so noch unglaubwürdiger.

*„Unser Vorschlag für das Amt des Verfassungsgerichtspräsidenten hat eine überwältigende Mehrheit des Parlaments überzeugt. Dr. Klaus-Dieter von der Weiden ist ein exzellenter Jurist, ein erfahrener Bundesverwaltungsrichter und eine integre Persönlichkeit.

https://www.cdu-landtag.de/aktuelles/pressemitteilungen/2022/voigt-dr-klaus-dieter-von-der-weiden-ist-ein-exzellenter-jurist-der-unterschiedliche-einschaetzungen-zusammenfuehren-kann

Frau U.
56 Minuten her

Naja, wer jetzt immer noch nicht kapiert hat, dass durch Medienkonzerne bestimmte Narrative geschaffen werden (staged“), um transatlantische Parteien als „staatstragend“ in die Regierung zu bringen, der sieht hier das beste Beispiel.

Will Hunting
1 Stunde her

Ich habe es mir nicht angeschaut und werde es auch nicht tun. Die sehr unterschiedliche Berichterstattung wundert mich nicht. Ich persönlich wünsche mir Meinungsvielfalt unter den Entscheidungsträgern. Erst dadurch wird ermöglicht das Entscheidungen weit, tief und möglichst gerecht in die Gesellschaft hineinwirken.
Die AFD als politischen Teilhaber von dieser Möglichkeit auszuschließen ist das Gegenteil davon.

RUEDI
1 Stunde her

Das ganze abgekartete Bubenstück der N N F (Neue Nationalen Front) wurde gezielt in Gang gesetzt, in dem von dem Landtagsverwaltungs – Chef verantwortet ( Parteizugehörigkeit ? ), die Mikrofone für die Hasstiraden und Beschimpfungen aller Coleur aus CDU und den Blockparteien bewusst freigeschaltet wurden – mit dem Ziel zu unterbrechen und den Ablauf der Sitzung zu stören. Im übrigen, wäre es für alle Beteiligten empfehlenswert, sich die Rede von Treutler nochmal genau anzuhören. In den Staatsmedien wird diese, wenn überhaupt darauf eingegangen, pauschal diffamiert- Die Empörungsmaschine in den MSM und die Bewertungen sogenannter “ Verfassungsexperten“ soll die Verfassungsrichter bis… Mehr

November Man
1 Stunde her

Die AfD als stärkste Fraktion hat das Recht, ihren Kandidaten für das Amt des Landtagspräsidenten vorzuschlagen, aber nicht ein Recht, dass dieser Kandidat dann auch gewählt wird. So ein Recht, ihren vorgeschlagenen Kandidaten wählen zu müssen, hat die AfD nie eingefordert. Es ist nach wie vor die freie Entscheidung der Abgeordneten des neuen Thüringer Landtags, wen sie persönlich zu ihrem Landtagspräsidenten wählen wollen. Die AfD hat aber als demokratische Partei das Recht den Respekt vor den Wählern zu fordern. Aber was da abläuft ist doch nur ein kindischer und für einen gewählten Abgeordneten unwürdiger Affenzirkus durch die Blockadeparteien. Es geht… Mehr

Last edited 1 Stunde her by November Man